Wie kann Zeit subjektiv sein? Zeit ist doch eine feste Dimension unserer Welt, die klar zu messen ist. Eine Sekunde dauert doch immer eine Sekunde – oder nicht? Die Sozial-Philosophen Alfred Schütz und Thomas Luckmann beugen nicht den Raum, sondern die Zeit.
Nachdem im letzten Beitrag die Struktur, die subjektive Erfahrung und der Organisationsaspekt der Zeit als Weltzeit vorgestellt wurde, wechseln wir von der Welt- auf die individuelle Ebene.
b) Subjektive Zeit
Unter dem Begriff der subjektiven Zeit fassen Schütz und Luckmann in gutem Philosophen-Soziologen-Deutsch
- die „zeitliche Artikulation des Bewusstseinsstroms“, den individuellen Tagesablauf, und
- die „biographische Artikulation“, den individuellen Lebenslauf, zusammen.
Tagesablauf und Lebenslauf stehen miteineander im wechselseitigen Verhältnis. Einerseits ist der Lebslauf dem Tagesrhythmus übergeordnet, d.h. bei der Betrachtung vergangener Lebensabschnitte werden Tagesabläufe zu größeren Sinneinheiten zusammengefasst (z.B. wie ist es dazu gekommen, dass ich als Soziologe ein Coach wurde?). Andereseits sind aber die Interpretationen und Entwürfe des Lebenslaufs auf die Tagesabläufe als ihre „Einheit“ bezogen.
Die Rythmen der subjektiven Zeit
Schütz und Luckmann geht es um das Bewusstsein. Das Individuum ist ihnen zufolge in der Gegenwart verortet, sein Bewusstsein bezieht sich auf die „aktuelle impressive Phase“, auf die augenblicklich gemachte Erfahrung. In dieser aktuellen impressiven Phase geht es um die Verarbeitung von Planung (in die Zukunft), Erleben (in der Gegenwart) in Wissen (in der Vergangenheit). Die Erfahrungen der Vergangenheit fließen ihrerseits wieder in die Planung der Zukunft ein, die dann von der Gegenwart eingeholt wird. Dadurch wird eine „Zirkularität im Bewusstseinsstrom“ hergestellt. Noch etwas soziologischer? Bitte sehr: Der Zirkularität des Bewusstseinsstroms beruht auf dem
„fortlaufenden Ineinanderschieben dessen, was jetzt gegeben ist, mit dem, was einen Augenblick zuvor als ‚Jetzt‘ gegeben war, und mit dem, was noch nicht ein Jetzt ist, aber im nächsten Augenblick zu einem Jetzt wird. Diese Verschmelzung der aktuellen impressiven Phase des Bewusstseins mit Retentionen einer vorausgegangenen impressiven Phase und Protentionen einer kommenden impressiven Phase gehen in kontinuierlichen, automatischen Synthesen vor sich, nicht in intentionalen Akten“.
Während die Zwangsläufigkeit der Weltzeit das Grundmotiv eines Tagesplanes ist, unterliegt der individuelle Tagesablauf den individuellen Rhythmen. Diese innere Zeit entsteht im Körper des Individuums, ist die unmittelbare Verbindung zwischen Körper und Bewusstsein. Sie ist die dem Menschen eigene biologische Zeit, die durch Veränderungen in der Bewusstseinsspannung bestimmt ist und deshalb nicht homogen ist. Manche Sekunden dauern Ewigkeiten, Stunden vergehen wie im Flug…
Wesentlich dabei: Die Tagesabläufe sind nicht linear wie die Weltzeit, sondern in höchstem Maße von zirkulären Motiven bestimmt. Wir haben Phasen höherer und niedriger Leistungsfähigkeit, wir sind wach oder müde, müssen mal schlafen, können powern, brauchen Erholung usw. usf. Damit haben wir aber nur etwas über den Tagesablauf gesagt. Die „biographische Artikulation“, der individuelle Lebenslauf, ist dem bedeutungsmäßig übergeordnet. Auch im Erleben längerer Zeitzusammenhänge dominieren zirkuläre Momente: Die Wochen haben zum Glück immer wieder ein Ende, die Bedeutung der Monate als war früher größer, aber Jahre wiederholen sich in ihren Jahreszeiten regelmäßig, selbst die eigenen Dekaden bedeuten immer wieder einen Neuanfang.
Im individuellen Erleben reihen sich also eher kleine Kreise (z.B. die Tage) in größeren Kreisen (z.B. den Jahren) an, die durch die Weltzeit so etwas wie einen Vortrieb bekommen. Der Lebenslauf als Anhäufung der individuellen Erfahrungen ist dann das Paket der auf dem weltzeitlichen Weg nach vorn (dem erreichten Alter) durchlaufenen Kreisbewegungen Der Tages- und Jahresabläufe. Die individuelle Situation ist maßgeblich durch die Geschichte seiner Erfahrungen mitbestimmt. Es ist von größter Bedeutung, in welcher Reihenfolge und an welcher Stelle bestimmte Erfahrungen auftreten. In der Retrospektive können wir meist entscheidende Erfahrungen entdecken, die unser Leben in Folge bestimmten. Häufig spielen diese Erfahrungen weniger eine Rolle wegen der ihnen etwa innewohnenden Qualität als wegen des besonderen Zeitpunkts, zu dem sie sich ereignet haben.
Der (Selbst-)Organisationsaspekt der subjektiven Zeit
Und wo bleibt der Organisationsaspekt dieser soziologischen Einlassungen? Nun, ein erfolgreiches Zeitmanagement sollte die „Phasen im Bewusstseinsstrom“, die individuellen Rythmen, berücksichtigen. Wer dauerhaft gegen seine eigenen Rythmen anlebt, wird im schlimmsten Falle krank. Im weniger schlimmen Fall leidet die Leistungskraft. Die Kunst besteht darin, die Anforderungen mit den subjektiven Phasen der Leistungsfähigjkeit zu „matchen“. Hohe Leistungen in Momenten hoher Leistungsfähigkeit, in schwächeren Momenten geringere Anforderungen wie z.B. Routine-Tätigkeiten. Weil die Zeiten aber in höchstem Maße subjektiv sind, muss jeder für sich herausfinden, was „seine“ Zeiten sind.
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